40 Jahre "A Clockwork Orange" (2024)

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1971 kam der Film "A Clockwork Orange" in die Kinos. Stanley Kubricks Adaption des Anthony-Burgess-Romans hatte gewaltigen Einfluss auf die Popkultur. Heath Ledger ließ sich für seine Darstellung des Joker in "The Dark Knight" von der Hauptfigur Alex inspirieren, Kylie Minogue trat bei ihrer "Fever"-Tour 2002 im Droogs-Outfit auf und die britische Punkband The Adicts trägt noch heute bei ihren Konzerten die Kostüme der brutalen Jugendbande.

Trotzdem dürfte keine Verbeugung vor Kubricks Filmklassiker in Deutschland so bekannt sein, wie die Punkrock-Hymne "Hier kommt Alex" der Toten Hosen. Zusammen mit fünf weiteren Liedern entstand der Titel 1988 für eine Bühnenadaption von "A Clockwork Orange" am Theater Bonn und wurde später auf der Platte "Ein kleines bisschen Horrorschau" veröffentlicht. Das Konzeptalbum mit dem Untertitel "Die Lieder aus Clockwork Orange und andere schmutzige Melodien" erzählt die Geschichte von Alex und seinen Droogs und machte Die Toten Hosen zu Stars.

einestages: Ist es eigentlich Ironie des Schicksals, dass die Toten Hosen ausgerechnet mit einem Konzeptalbum über einen Teenager, der von der Gesellschaft gleichgeschaltet werden soll, zu Popstars geworden sind?

Campino: Wir waren keine Popstars, wir waren Rockstars.

einestages: Aber "Hier kommt Alex" kann doch heute jeder Bankangestellte mitbrüllen.

Campino: Ja, aber das ist keine Ironie des Schicksals. Nirvana haben ihren Verzweiflungsschrei "Nevermind" ja auch millionenfach verkauft und das Album ist dabei das gleiche geblieben.

einestages: Hatten Sie als Jugendlicher Angst, von der Gesellschaft gleichgeschaltet zu werden?

Campino: Die Angst brauchte ich nicht zu haben. Ich habe mich nicht für BWL eingeschrieben (lacht). In unserer Punkszene war damals klar: Wir sind dagegen und machen unser Ding. Wir haben der Fratze der Gesellschaft ins Gesicht gelacht.

einestages: Und wie sehen Sie das heute?

Campino: Wie die meisten Revolutionen ist auch die Punk-Bewegung im Wesentlichen gescheitert. Aber es war trotzdem genial, Teil dieser Szene zu sein und das Gefühl zu haben: Wir können die Welt verändern. Die Punks haben in der Gesellschaft ja auch etwas bewegt. Mit ihrer krassen Art zu schockieren, haben sie die Grenzen der Toleranz neu abgesteckt. Und auch in der Musik haben sie für eine gewisse Freiheit gesorgt.

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Campino über Alex: Eher Chaos als Gewalt

Foto: ddp images

einestages: War "A Clockwork Orange" ein wichtiger Film für die Punks in Düsseldorf?

Campino: Er war bei uns der absolute Kultfilm. Den hat man sich auch nicht nur einmal angesehen, sondern mehrmals. Bei jeder Gelegenheit haben wir uns Zitate aus dem Film an den Kopf geworfen. Etwa: "Wir saßen in der Korova Milchbar und tranken die gute alte Moloko-Plus mit Messern drin." Außerdem habe ich bestimmt zehn Jahre lang nur Doc-Martens-Boots mit Stahlkappen getragen, ähnlich wie die Droogs in "A Clockwork Orange".

einestages: Wann haben Sie den Film zum ersten Mal gesehen?

Campino: Das war 1978, ich war um die 16 und wir waren mit mehreren Punks aus dem Ratinger Hof im "Metropol Kino" in Düsseldorf-Bilk. Wir haben ihn sogar bis zum Schluss gesehen. Das war nicht die Regel. Damals wurde schon mal ein Kinobesuch durch den Einsatz eines Feuerlöschers beendet. Jemand rief "Feuer!" und ein anderer schäumte den Saal ein. Aber bei "A Clockwork Orange" hat keiner von uns an den Feuerlöscher gedacht.

einestages: Was hat Sie so fasziniert?

Campino: "A Clockwork Orange" drehte sich um eine Gegenkultur, aber es ging nicht um Hippies, wie bei manchen anderen Filmen. "Easy Rider" ist auch ein grandioser Film. Aber bei "A Clockwork Orange" hatten wir das erste Mal das Gefühl, dass es nicht um irgendeine vergangene Generation geht, sondern um uns. Zum Beispiel das Losziehen, das Randalieren ohne Sinn - genau so haben wir Punks uns eine Zeit lang gefühlt: Es gibt nichts zu tun und da ist eine Obrigkeit, die versucht, dich zu kontrollieren und gleichzuschalten. Wahrscheinlich ahnte Kubrick davon gar nichts, als er "A Clockwork Orange" gemacht hat. Aber ich glaube, viele aus meiner Generation fühlten: Das ist unser Film.

einestages: Sie sind wie die Droogs durch die Straßen gezogen und haben Ärger gesucht?

Campino: Zumindest was Straßenlaternen, Telefonzellen und Autos anging. Wir hätten nie einen zufällig vorbeikommenden Typen umgehauen. Das war völlig gegen unseren Kodex.

einestages: Es ging also eher um Chaos, als um Gewalt.

Campino: Natürlich hatten wir auch irgendwie Spaß daran, ein kleines bisschen Horrorshow zu verbreiten. Manchmal haben wir mit 50 Mann Feten gestürmt, in drei, vier Minuten alles ausgetrunken und hochprozentigen Alkohol in Aquarien mit Zierfischen geschüttet. Dann wurde noch das Schlafzimmer der Eltern auseinandergenommen und wir sind lachend abgehauen. Heute denke ich natürlich: Mein Gott, hatte ich nur Stroh in der Birne? Aber damals war das eine Zeit lang schwer in Mode.

einestages: Können Sie sich an einen speziellen "A Clockwork Orange"-Moment in Ihrer Jugend erinnern?

Campino: Als ich 13 oder 14 Jahre alt war, gab's bei uns in der Nachbarschaft ein verlassenes Haus. Komischerweise hatten die ehemaligen Bewohner fast alles zurückgelassen. Die gesamte Einrichtung war noch da und das Haus sollte bald abgerissen werden. Ich bin mit zwei Jungs mit langen Stöcken rein und wir haben einen Nachmittag lang alles zusammengeschlagen. Das war ein seltsamer Kick, in anderer Leute Badezimmer zu gehen, wo alles noch rumstand - Spiegel, Zahnputzbecher - und dann einfach mit dem Stock reinzuhauen, bis nichts mehr heil ist. Die totale Zerstörung. Das sind Szenen, die ich mein Leben lang nicht vergessen werde. Als ich "A Clockwork Orange" gesehen habe, fühlte ich mich an diesen Nachmittag erinnert.

einestages: Der Gewalttäter Alex liebt Beethoven. Mit einem Auszug aus Beethovens neunter Sinfonie beginnt auch Ihr Album "Ein kleines bisschen Horrorschau". Hat klassische Musik Sie schon einmal aggressiv gemacht?

Campino: Das nicht. Aber ich verstehe die Kraft dieser Musik, und wenn sie in gewissen Situationen gespielt wird, hat sie etwas wahnsinnig Brutales. Ich erinnere nur an Wagners Walkürenritt in "Apocalypse Now". Eine totale Angstvorstellung von mir ist es, alleine in einem großen Haus zu sein und ganz laut klassische Musik hören zu müssen. Für Alex hat sie jedenfalls gepasst wie die Faust aufs Auge.

einestages: War der "A Clockwork Orange"-Protagonist für Sie ein Held?

Campino: Ich fand ihn genial. Alex ist verschlagen und unmenschlich, aber so charismatisch, dass man trotzdem eine große Sympathie für ihn empfindet. Besonders später im Film, wenn die Ärzte versuchen, ihm den Bösewicht auszutreiben und am Ende scheitern. Man kann so eine Figur aber großartig finden und gleichzeitig die Grausamkeit in ihr erkennen. Wirklich so sein wie er wollten wir dann doch nie.

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einestages: Was schätzen Sie, wie viele Ihrer Fans wissen, dass es in Ihrem Hit "Hier kommt Alex" um die Hauptfigur aus "A Clockwork Orange" geht?

Campino: Spätestens als Alex Ristic Trainer bei Düsseldorf war, hat sich das Lied vollkommen verselbständigt. Da wurde der Song zu einer Fortuna-Hymne. Aber für mich bleibt "Alex" natürlich da, wo er herkam. Ich habe nie irgendwas anderes als "A Clockwork Orange" damit assoziiert. Es kann sein, dass sehr viele Leute keine Ahnung mehr haben, warum wir das Lied eigentlich geschrieben haben.

einestages: Stört Sie das?

Campino: Ich glaube, man kann auch Spaß an der Platte haben, ohne den Film gesehen zu haben. Aber wenn man beides kennt, kann man sich vieles besser erklären. Es gibt im Booklet ja auch diesen Text, der in Nadsat geschrieben ist, der Sprache, in der sich Alex mit seinen Droogs unterhält. Das kapiert nur, wer den Film gesehen hat.

einestages: Wann haben Sie "A Clockwork Orange" das letzte Mal geschaut?

Campino: Das ist bestimmt 15 Jahre her - aber ich habe ihn auf DVD.

einestages: Wozu das?

Campino: Weil er Kult und ein Meisterwerk ist. Wenn mein Sohn alt genug ist, würde ich ihm den gerne mal zeigen und mit ihm vielleicht drüber reden.

einestages: Was würden Sie ihm sagen?

Campino: Ich würde ihm erzählen, dass das für uns damals ein ganz wichtiges Ding war. Aber auch, dass das Thema des Films noch immer brandaktuell ist und wie die Gesellschaft versucht, jeden ruhigzustellen, der aus der Reihe tanzt.

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